Peter Grimes

29. April 2024

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Die Oper von Benjamin Britten im Stadttheater Osnabrück

 

Zum letzten Mal wurde am Sonntag, den 14.04.2024 im Stadttheater die Oper „Peter Grimes“ aufgeführt.

Nachdem ich mir an der Theaterkasse mit der KUKUK-Karte aus dem Bestand der noch freien Karten einen schönen Platz im ersten Rang hatte aussuchen dürfen, begab ich mich zunächst ins Foyer im ersten Stock des Theaters. 

Dort wurde eine halbe Stunde vor Beginn eine Einführung in das Stück und seine Entstehung gegeben. Dies war hilfreich, weil das Stück in englischer Sprache gesungen wird – übrigens, sollte dies abschrecken: Wird eine fremdsprachige Oper aufgeführt, gibt es links und rechts der Bühne zwei gut sichtbare, gleichzeitig dezent angebrachte Monitore, auf denen die Übersetzung nachgelesen werden kann. Sehr hilfreich waren auch Hinweistafeln im Eingangsbereich, auf denen man sich mittels QR-Codes Informationen zum Stück auf dem smartphone ansehen konnte.   

In der erwähnten Einführung wurde der berühmte Komponist Leonard Bernstein bezüglich „Peter Grimes“ zitiert, der das Stück mit dem Bild einer Anordnung von Zahnrädern beschrieb, die nicht richtig ineinander griffen, wodurch nach einer Weile ein Gefühl von Schmerz entstünde.

Nach der Einführung war noch etwas Zeit, um sich auf das Stück vorzubereiten, die Atmosphäre im Foyer aufzunehmen — das angeregte Stimmengewirr der Zuschauer*innen — bis ein Klingeln auf den Beginn der Aufführung hinwies und die Plätze im Saal eingenommen wurden. Es empfing die Zuschauer*innen das Durcheinander der sich einspielenden Instrumentalisten im Zuschauerraum. Dann wurde es dunkel, die Akteure wurden mit Beifall begrüßt und das Stück begann.

In einem kleinen Fischerdorf an der englischen Nordseeküste ist es zu einem Todesfall gekommen. Der Lehrling des Fischers Peter Grimes ist zu Tode gekommen. Die Umstände sind unklar. Der verschroben und unnahbar wirkende Grimes, der in der Dorfgemeinschaft keinen guten Ruf besitzt und daher ein Außenseiterdasein fristet, wird sofort verdächtigt.

Im Verlaufe des Stückes wird ermittelt, wie es tatsächlich zu dem Todesfall gekommen ist.

Die Dorfgemeinschaft pflegt einen recht pragmatischen und harten Umgang untereinander, der seine Wurzeln im rauen und entbehrungsreichen Leben an der Küste und den Entbehrungen des Fischerberufes hat. Die bigotte Dorfgemeinschaft, die mit allerlei vorurteilsbehafteten Anschuldigungen leichtfertig um sich wirft, macht bezüglich eigener Unpässlichkeiten wenig Aufhebens. Auf der einen Seite wird ohne stichhaltige Indizien Grimes des Mordes an seinem Lehrjungen verdächtigt, auf der anderen Seite wird ihm ohne viel Federlesens ein weiterer Junge aus dem Armenhaus als neuer Lehrling zur Verfügung gestellt.     

Der Komponist des Stückes Benjamin Britten hatte sich den Stoff des Stückes explizit deshalb ausgesucht, da die Handlung in seiner Heimat angesiedelt ist und das Rau_e und das Schroffe von Land und Leuten aufgreift. So gilt diese Oper auch als Brittens Persönlichste, in der sich neben der Hommage an seine Heimat auch in der Rolle des Außenseiters Grimes autobiographische Aspekte verarbeitet finden: Als homosexueller Kriegsdienstverweigerer war erfahrene Ausgegrentztheit für Britten nichts Unbekanntes.

Bei der Aufführung fiel mir der Dokumentarfilm „Lost Town“ ein, den ich vor vielen Jahren gesehen hatte. Die Dokumentation ist Ergebnis einer Langzeitbegleitung zweier Architekturstudent*innen, die einen Wettbewerb in Dunwich gewonnen hatten, einem Ort, der nur zwanzig Kilometer von Brittens Heimat, also dem Ort der Handlung, entfernt liegt. Die Aufgabe des Wettbewerbs bestand darin, ein landschaftlich prägendes, architektonisches Merkmal zu entwerfen. Der gewonnene Beitrag der beiden Student*innen sah vor, im Meer metallene, verspiegelte Metallstelen aufzustellen, die den Grundriss der ehemaligen Kirche von Dunwich abbilden sollten. Hier wird eine interessante Parallele zu „Peter Grimes“ deutlich, in dem die Dorfbewohner*innen ständig mit drohenden Sturmfluten umgehen müssen (ein durch solch eine Sturmflut hervorgerufener Sturm, führt auch zu einem Erdrutsch, der im Verlauf zu einem weiteren Opfer führt), denn die Kirche ist aufgrund der durch die stürmische Nordsee hervorgerufene Küstenerosion versunken und so sollen die Stählen als Symbol des immer weiter ins Land greifenden Meeres dienen. Durch die Verspiegelung würden die Stählen, je nach Tageszeit und Wetterlage, gleißend hell in der Mittagszeit oder feuerrot in der untergehenden Abendsonne leuchten. 

Alles im Konjunktiv, denn der schlichte, wie wirkungsvolle Entwurf, wurde in einer öffentlichen Anhörung von der dortigen Dorfgemeinschaft rundweg abgelehnt. Besonders erinnerte ich mich eine sehr junge Frau — besser wohl: ein junges Mädchen — die sich in dieser Anhörung erhob und mit vor stolz bebender Stimme verkündete, dass hier alles genauso sei, wie sie es sich wünschte und dass sie keine Veränderung wolle. Anerkennende Beifallsbekundungen der übrigen Anwesenden wiesen darauf hin, dass dies die Mehrheitsmeinung darstellte. Die Szene zeichnete das Bild einer sehr konservativen, tradierten Gesellschaft, die gleichzeitig sehr stark mit dem Landstrich identifiziert ist. Es war für mich leicht vorstellbar, die Dorfgemeinschaft aus „Peter Grimes“ mit der aus „Lost Town“ auszutauschen. Anders gesagt: Die aus der Zeit gefallene und überzeichnet wirkende Haltung der Dorfbewohner*innen in „Peter Grimes“ scheint gar nicht so weit von der Realität entfernt zu sein…

So wird auch die zunächst nicht erklärbare Haltung der Menschen gegenüber Peter Grimes nachvollziehbar. Dieser ist eigentlich ein phantasievoller, hoffnungsvoller Mensch, der sich ein schönes, sorgenfreies Leben für sich vorstellt und sich auch dafür einsetzt. Und genau dieser Enthusiasmus ist es, der Befremden und Argwohn bei den übrigen Dorfbewohner*innen auslöst. Als sich die Lage im Verlauf des Stückes weiter zuspitzt (auch der neue Lehrjunge stirbt — erneut ist Grimes unschuldig), läuft die aufgebrachte Menge zu seinem Haus und skandiert dabei: „Him who despises us we’ll destroy!“ — Wer abseits steht und uns verachtet, den zerstören wir! 

Verzweifelt und hoffnungslos, desillusioniert aufgrund eines zukünftigen Lebens voll weiterer Anfeindungen ist Grimes auf die offene See gerudert und versenkt dort schließlich sein Boot.

Inhaltlich bietet das Stück also wenig trotz aller Dramatik wenig Tiefgreifendes, allerdings entsteht durch die musikalische Adaption, ein sehr eindrückliches Bild von Brittens Heimat: von den natürlichen Bedingungen und davon, wie diese die Menschen dort prägen.                    

Der Gesang ist allenthalben sehr beeindruckend. Ohne technische Verstärkung sind die Sänger*innen in der Lage, den großen Saal mit dem gewaltigen Klang ihrer Stimmen zu füllen. Bereits in der Verhörsituation zu Beginn des Stückes wird den Sänger*innen viel abverlangt: Es ist eher eine Sprechsituation, vielleicht wie eines Richters oder Staatsanwalts in einem Gerichtssaal. Genau die getragene Art und Weise, wie dort gesprochen wird, wird hier in Gesangsform transportiert, was sehr gut gelingt und gleichzeitig sehr schwierig erscheint. 

Diese anspruchsvolle Weise zu singen zieht sich durch das gesamte Stück. Vieles ist dabei sehr unharmonisch und wirkt ungeordnet — möglicherweise war es dies, was Leonard Bernstein zu seiner Äußerung veranlasst hat.

Das Bühnenbild besteht aus einem die komplette Bühne füllenden rechteckigen Körper, der eine Mulde ähnlich einer Halfpipe für Skateboardfahren aufweist. Die rudimentäre Form läßt es zu, dass der Körper wahlweise als Kaimauer, Schiffsbauch, Hafenbecken, Gerichtssaal, Dorfkneipe und vieles mehr interpretiert werden kann. 

Ein anderes für das Stück prägendes Element stellen sechs instrumentale Interludien dar. Kurze Stücke in denen nur das Orchester zu hören ist. Während dieser Stücke ist eine Wand vor der Bühne heruntergelassen, auf der eine Videoschleife eines wogenden Meeres zu sehen ist. Es gibt nichts zu sehen, außer den dunklen Wogen — immer in Bewegung, unruhig, keine Orientierung bietend. Die Musik geht weiter, gleichbleibend enervierend, die Wand hebt sich, die Videosequenz läuft weiter nun auf einem durchscheinenden Vorhang (der sich nach einiger Zeit ebenfalls hebt) projiziert und dahinter stimmt der Chor der Dorfbewohner*innen — also ein wahrer Fischerchor — den Gesang an. Der Effekt ist sehr gelungen: Die Musik transportiert das Bild der aufgewühlten See weiter und bleibt unterschwellig auch im Gesang des Chores erhalten. Auf diese Weise wird greifbar, wie sehr die unruhige, drohende See stets im Leben der Menschen omnipräsent ist und es prägt. 

Der Besuch dieses Stückes und gleichermaßen einer Oper an sich war sehr bereichernd. Über meine Wahrnehmung hinaus gibt es sicherlich viel mehr zu erleben, insbesondere mit ausgeprägteren Kenntnissen über Musik, kann man die Leistungen der Künstler*innen sicher noch besser wertschätzen. Aber das Erlebnis „Oper“ an sich ist jeden Besuch wert. Wenn auch aus dem Inhalt nicht viel zu ziehen ist, gelingt es mit dieser Aufführung ein sehr greifbares Bild der Heimat von Benjamin Britten zu zeichnen. Möglicherweise ist die Figur des mißverstandenen, aussenstehenden Protagonisten ja auch die Verkörperung dessen, was auch aus Benjamin Britten hätte werden können.

TEXT Chris Ellermann

FOTOS Stephan Glagla