Chorprobe in den Räumen der SKM-Tageswohnung in der Bramscher Straße | Auftritt im Forum am Dom 22.05.2024
Bereits um 09.30h komme ich in der SKM-Tageswohnung (Sozialdienst katholische Männer) in der Bramscher Straße an, wo ich heute an einer Chorprobe des abseits-Chores teilnehmen darf. Ich frage mich durch und kriege dabei etwas vom trubeligen Treiben im Haus mit. Es wird gekocht, gegessen, jemand schaut fern, ein anderer arbeitet an einem Computer…
Es ist noch etwas Zeit bis zur Probe — der Chorleiter Christian Götz hatte mir empfohlen, früher zu kommen: Im Nachgang zu seinem Geburtstag gibt es belegte Brötchen.
Nach und nach kamen die Sänger*innen zur Probe und es wird munter gegessen, gequatscht, gratuliert, neueste Neuigkeiten ausgetauscht… Dabei bemerkte ich schnell, dass eine große Vertrautheit untereinander herrscht und auch eine hohe Wertschätzung füreinander.
„Lass’ uns die Stimme sein, singen und lauter sein,
als die die glauben, ihnen kann’s nie passier’n“ *
Und ich bemerke auch noch etwas an mir: Mein ursprünglicher Plan war, dabeizusitzen und die eine oder andere Frage zum Chor zu stellen. Aber, ich spüre eine Scheu. Normalerweise bin ich nicht gerade schüchtern, aber irgendwie fühle ich mich eingeschüchtert.
Ich wusste natürlich, dass die Menschen, die hier mitsingen im engeren oder weiteren Sinne mit Wohnungslosigkeit oder sogar Obdachlosigkeit zu tun haben. Und mit Armut, Einsamkeit, Trennung, den Auswirkungen von Drogenmissbrauch…
Und mit Ausgrenzung. Und ich merke, dass es vermutlich vor Allem das ist, was meine Scheu ausmacht. Das ich verunsichert bin und das Gefühl habe, ich muss mich dagegen abgrenzen und diese Menschen damit ausgrenzen. Das war fürchterlich zu bemerken! Und noch schlimmer: In mir regt sich Mitleid! Dabei sitze ich inmitten einer vergnügten Runde, die leckere Brötchen genießt und angeregt quatscht — es ist also ein deplatziertes, anmaßendes Gefühl, was da in mir hochkommt. Niemand braucht hier mein Mitleid. Ich beginne zu begreifen, wie häufig diese Menschen — on top — mit Vorurteilen umgehen müssen, sei es auch nur falsch empfundenes Mitleid.
„Jeder hat was einzubringen, diese Vielfalt, wunderbar.
Neue Lieder woll’n wir singen, neue Texte laut und klar.“
Und dabei sind hier einfach nur freundliche und zugängliche Menschen, die mich an ihrer Chorprobe teilnehmen lassen! Und proben müssen sie, denn es stehen in nächster Zeit zwei Auftritte an. Wir begeben uns in einen großen Raum mit verschiedensten Stühlen und Sofas als Sitzgelegenheiten und singen uns in den nächsten zwei Stunden munter durch das Programm. Alles sitzt schon sehr gut, hier und da hakt der Chorleiter ein und die Stelle wird erneut geprobt. Es gibt eine kurze Pause und am Ende haben wir knapp zwanzig Stücke gesungen. In einigen Stücken sind sogar Solopassagen eingebaut, die entweder gesungen oder gesprochen werden.
„Du bist blau, und weißt genau, ich find das nicht okay.
Ist nicht normal. Und nicht egal. D’rum bitt’ ich Dich jetzt: Geh’!“
Das beeindruckt mich sehr: Viele der Texte sind selbst geschrieben, viele sind autobiographisch. Dadurch werden die Worte wahrnehmbarer, greifbarer. Vielleicht so, wie wenn Zeitzeugen von einem Ereignis erzählen.
Viele der Texte handeln von alltäglichen Themen: der Liebe, Abschied, Not, Mut, Hoffnung — alles in nicht alltäglichen Umständen.
„Vergesse ich immer öfter Deinen Namen
und erkenne nicht mehr Dein Gesicht,
so bitte ich Dich heut’ schon um Erbarmen.
Nein, Dich vergessen will ich nicht, will ich nicht.“
Hier sind Menschen, die ihr Leben leben und mit klarer und ehrlicher Sprache — und nicht ohne Augenzwinkern — davon singen. Wer hier hinhört (oder mitsingt — neue Teilnehmende sind herzlich willkommen) verlässt vielleicht die Komfortzone, erhält dafür aber auch einen Blick über den eigenen Tellerrand, was heutzutage ja wiederum sehr wichtig geworden ist — Verständigung, Annäherung — dafür leistet der abseits-Chor auf schöne, ermutigende Weise einen Beitrag.
Wer den Chor erleben möchte, hat am 22.05.24 im
Forum am Dom eine Gelegenheit. Die Proben finden wöchentlich mittwochs von 1015-1145h statt, weitere Informationen finden sich auf der
homepage.
Kürzlich hat auch der Radiosender Deutschlandfunk ein Feature mit dem abseits-Chor geführt und zu erwähnen ist noch, dass es dem Chor darüber hinaus gelungen ist, eine CD mit ihren Stücken aufzunehmen…
„Gib nicht auf, auch wenn es leichter ist!
Steh wieder auf, wenn Du am Boden bist!
Gib nicht auf, Du kannst auf eigenen Füßen stehen.
Gib nicht auf, wir wollen Dich nicht im Abseits stehen.“
Auftritt im Forum am Dom am 22.05.24
Nachdem ich ja nun den Chor kennengelernt hatte, ergab es sich, dass ich eines der Chormitglieder zu einem Auftritt in Lotte begleiten konnte. In diesem Zusammenhang entstand der Vorschlag, dass ich ja auch mal bei einem Auftritt mitsingen könnte. Dies ergab sich dann für den 22.05.24. In dem mit ca. 60 Gästen gut gefüllten Forum sang der Chor mit Klavier- und Gitarrenbegleitung (die Gitarre spielte dankenswerterweise der aktuelle FSJ-Mitarbeiter aus der Tagesstätte) gut 90 Minuten sein sehr persönliches Repertoire. An vielen Stellen gab es auch sehr mutige und ergreifende Soloeinlagen und zu einigen Stücken gab es einige Worte zur Einführung von den Verantwortlichen der Texte.
Von der Bühne aus ließen sich gut die andächtig lauschenden Gäste zu beobachten. Die nachdenklichen Minen auf den Gesichtern zeigten, dass der Funke übergesprungen war und aus einigen Gesprächen, die ich im Anschluss an das Konzert überhören konnte ging hervor, dass an der einen oder anderen Stelle auch schonmal hart geschluckt werden musste. Nach einem entsprechend ausdauernden Applaus schloss der Abend mit einer Zugabe und entließ die Gäste glücklich in den Rest des Abends.
Für mich war es ein sehr schöner Abschluss und eine tolle Entwicklung, wenn ich daran denke, wieviel Scheu ich zunächst verspürt hatte und wieviel Respekt ich auch hatte. Nun durfte ich auf der Bühne stehen und neben diesen Menschen ihre Lieder mit zum Besten geben. Das war gleichermaßen eine große Ehre, wie es auch Spaß gemacht hat! Eine freundliche, ermutigende Motivation dafür, immer mal wieder über den eigenen Tellerrand zu schauen!
*dies und alle folgenden Zitate stammen aus den Texten des abseits-Chores.