39. Osnabrücker Filmfest | Dienstag

9. Dezember 2024

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Eröffnung | Shahid | Unverstanden

 

Mein erster Besuch beim diesjährigen 39. Filmfest Osnabrück führt mich direkt in die Eröffnungsveranstaltung im Saal des bis auf den letzten Platz gefüllten Filmtheater Hasetor. Nach einer Begrüßung durch die Festivalleiterin eröffnet die Kultur-Fachbereichsleiterin der Stadt das Festival. Julia Scheck wie auch Patricia Mersinger betonten dabei übereinstimmend die angespannte finanzielle Situation der Stadt und sprechen damit auch drohende Einschnitte bei der Förderung seitens der Stadt für das kommende Jahr an. Weitere Einschnitte, denn bereits im letzten Jahr hatte es Kürzungen für das Filmfest seitens der Stadt (aber auch des Landes und des Bundes) gegeben.

Das dies in beiden Ansprachen eine Erwähnung fand, lässt mich vermuten, dass die Situation für das Filmfest offenbar nicht unbedingt komfortabel ist und daher wollte ich es auch an Beginn meines Berichtes stellen. Vielleicht kann man meine Schilderungen auch unter diesem Blickwinkel lesen…
Gerade unter dem Gesichtspunkt der aktuellen gesellschaftlichen und politischen Kulturkämpfe ist die Leistung oder Bedeutung des Filmfest aus Sicht von Frau Scheck zu betonen. Eine geförderte und damit auch gewollte Kulturszene ist demokratiestärkend.
Auch Frau Mersinger sprach dem Besuch des sorgfältig kuratierten Programms aktivierende, zum Handeln anregende Wirkung zu.
Hoffentlich gelingt es die finanzielle Unterstützung weiter aufrecht zu erhalten!
Frau Scheck lädt schließlich für das Filmfest dazu ein, Standpunkte zu wechseln und neue Erfahrungen zu sammeln.

Mein erster Kontakt mit dem Filmfest war im Jahr 2006. Seitdem freue ich mich jährlich auf die filmischen Expeditionen in unbekannte Bereiche – räumlich wie auch psychisch. Denn die Filme sind fordernd und konfrontieren eigene Sehgewohnheiten mit experimentellen Erzähl- und Drehweisen und stellen mitunter auch eigene Sichtweisen auf die Probe. Wenn man das zulassen kann, ist das natürlich ein großer Gewinn.
83 Filme (in 38 Sprachen) – das kann man natürlich nicht alles abdecken. Die Auswahl der Filme, die ich gesehen habe, stelle ich auf den nächsten Seiten vor.

 

Shahid

 

Als Eröffnungsfilm war die deutsche Produktion „Shahid“ von 2024 ausgewählt worden. Die Regisseurin Narges Kalhor ist gebürtige Iranerin. Der Film hat mit ihrer eigenen Geschichte zu tun. Die in München lebende und arbeitende Deutsch-Iranerin ist die Tochter eines Medien- und Kulturberaters des ehemaligen iranischen Präsidenten Ahmadineschād und Urenkelin eines religiösen Märtyrers.

Im Film wird die von einer Schauspielerin dargestellte Kalhor bei ihrem Versuch begleitet, den sie belastenden Teil (Shahid = Märtyrer) ihres Nachnamens aus dem Pass zu tilgen. Ihr Urgroßvater war einen Heldentod gestorben.
Die Geister dieser für Kalhor belastenden Vergangenheit folgen ihr permanent. In der Nacht, in ihren Träumen, tagsüber, sobald sie aufsteht und das Haus verlässt, bei der Verrichtung ihres Alltages…
Dargestellt ist dies durch eine Schar tanzender Männer, die ihr folgen, mit denen sie auch Zwiesprache hält, die mahnen & dräuen. Sie tragen schwarze, trachtenartige Roben, die an die traditionelle Kleidung der Mullahs, also Religionsgelehrter, angelehnt sind.
Das Ablegen des Namens stellt den Versuch dar, sich dem Erbe und dem damit verbundenen Druck der Verantwortung zu entledigen.
Auf ihrem „Weg durch die Institutionen“ weitet sich der Film zunehmend und es entsteht zunehmend ein Panorama, dass die ganze Lebenslage der Protagonistin umfasst. Es werden mit jeder neuen Szene auch neue Erzähltechniken oder Realitätsebenen eingeführt: In einer Art Theatersituation doziert ein Vortragender über die Geschichte des Irans. Ein Psychologe, den sie wegen eines Gutachtens wegen ihres Wunsches nach Namensänderung aufsuchen muss, diagnostiziert ihren Wunsch als Symptom einer PTSB.
Zunehmend werden auch Elemente eingefügt, die einen dokumentarischen Charakter haben: So werden Szenen eingeführt, in denen sich zwei der Schauspieler – vermeintlich „off record“ – über die Regisseurin lustig machen.

Nicht nur ist das an sich ein weitere Erzähltechnik die eingeführt wird, auch entwickeln diese Szenen ihrerseits eigenen Geschichtsstränge: In der zuletzt beschriebenen Szene sagt der Schauspieler sinngemäß, dass dies ein typischer Arthouse-Film sei, den Freunde drehen würden, um sich anschließend dafür Preise zu verleihen. Mittels dieser kurzen Episode wird ein weitere Facette der Umstände in denen Kalhor sich bewegt verdeutlicht.

Die einzelnen Elemente sind wiederkehrend und entwickeln sich dabei weiter: So fällt bei dem erwähnten Psychologen auf, dass seine Fingerkuppen abgeklebt sind, was ein psychosomatisches Abkauen als Stressbewältigung andeutet. Im Verlauf der Szenen mit dem Psychotherapeuten stellt sich heraus, dass seine Name Ribbentrop (wie der NSDAP-Kriegsverbrecher) lautet und Kalhor erwidert in einer späteren Situation süffisant, dass der Therapeut eine Vorstellung davon haben sollte, welches belastende Erbe Nachnamen darstellen können.

Die Szene mit den lästernden Schauspielern, die an die Verfremdungseffekte des epischen Theaters erinnern, wird so weiterentwickelt, dass der Regisseurin die versehentlich mitgeschnittenen Szenen zugespielt werden.
Einige Episoden später, droht alles zu kollabieren: In einer weiteren Entwicklung unternimmt die Protagonistin den (symbolischen) Versuch, ihren Märtyrer-Großvater zu erschießen, woran sie aber durch ihre Moralvorstellung gehindert wird.
In einem letzten Handlungswechsel stellt sich die ganze Erzählung auf den Kopf: Tatsächlich klärt sich eine Verwechslung auf, da die eigentliche Heldin und Märtyrerin die Urgroßmutter war, aber durch Geschichtsklitterung in die Geschichte eines männlichen Helden verwandelt wurde.

Dieser abschließende Aha-Moment überrumpelt alle Protagonisten im Film, was sich auch auf mich übertrug und ein seltsames Gefühl bei mir erzeugte. Eine Mischung aus Verblüffung und innerlichem Kopfschütteln: In diesem Film ging es ja vordergründig nicht um die Unterdrückung von Frauen in der iranischen Gesellschaft – der Film erweckte den Eindruck, als behandele er Themen wie dem Filmemachen (Beruf), den Schwierigkeiten im Behördendschungel (Gesellschaft), den therapeutisch behandelten Stress wegen des geistigen Erbes (Individuum) deutet eher daraufhin, dass es sich um eine Erzählung über Identität und Heimatsuche und einer Verlorenheit und dem damit verbundenen Leid aufgrund des Mangels an beidem handelt.

Nach all der Unsicherheiten, dem Stress, dem schlechten Träumen, die dargestellt wurden, wirkt dieser letzte Twist fast wie ein Treppenwitz. All das Leid wegen der hergebrachten, patriarchalen Haltungen und Strukturen.
Es ist entlarvend, denn es zeigt, wie hinderlich und überholt und reformbedürftig diese Traditionen für Frau Kalhor sind, denen man mit Gleichmut begegnen könnte, wenn sie nicht so lebensfeindliche Auswirkungen hätten.

Durch die beschriebene Erzählweise könnte man vermuten, dass eine Sogwirkung entsteht. Aber erstaunlicherweise empfand ich es viel mehr so, dass die Handlung mich nicht hineinzieht, sondern vielmehr immer mehr auf mich zukommt. Also funktioniert der Film im brechtschen Sinne sehr gut und lässt mich mit der Gewissheit des omnipräsenten und immensen Einflusses von institutionell vorgegebenen Moralvorstellungen zurück, die zwar im Alltag nicht präsent sind, aber dennoch unverändert feststehend vorhanden.

Wo finde ich das in meiner eigenen Prägung wieder, durch meine Familie, meine Religion, das Land, in dem ich lebe mit seinen Gesetzen und Normen,…?

Ich hatte beschrieben, wie dieser Film auf einen zukommt. Dieses Gefühl wurde durch den Umstand ergänzt, dass Regisseurin und ein Schauspieler den Zuschauern mit Auskünften und Antworten zur Verfügung standen.
Dem Film, dessen Handlung vor den Demonstrationen aus Anlass des – mutmaßlich durch die Misshandlungen des durch Vertreter staatlicher Organe hervorgerufenen – Todes von Jina Mahsa Amini und der gewaltsamen Bekämpfung der Demonstrierenden entwickelt worden war, war der Kurzfilm „Sensitive Content“ vorangestellt:
In einer Art Collage waren viele smartphone-Videosequenzen aneinandergereiht, die im Rahmen der Demonstrationen seit dem September 2022 im Iran stattfanden. Trotz der Intensität, die Shahid zweifelsohne ausstrahlte, beeindruckte die rohe Gewalt, Brutalität, der die Demonstrierenden ausgesetzt waren.
Die beiden Filme ergänzten sich sehr gut und obwohl das natürlich nicht geplant war, machte der unverstellte Blick auf die drastische Gewalt die in Shahid dargestellten Ängste, die die Protagonistin in Zusammenhang mit ihrer Heimat empfand, sehr gut nachvollziehbar.

Uverstanden

 

Ohne Ortswechsel konnten ab 2230h die ersten Beiträge um den Preis für den besten Kurzfilm angesehen werden. Unter der Überschrift „(un)verstanden“ wurden 6 Filme gezeigt. Natürlich hat der Titel einen anderen Bezug, dennoch haben mich die Filme in der Tat ziemlich ratlos zurückgelassen und unberührt gelassen.
Für mich sollte ein Film ein Kommunikationsangebot an die Zuschauenden sein. Aber in diesen Beiträgen fühlte ich mich nicht angesprochen. Zum Beispiel öffnete in „Shooting Watermelons“ ein verwitweter Vater, nachdem er in eine ungewohnte Situation versetzt worden war sein Herz und berichtete den Anwesenden, dass ihn der Tod seiner Frau sehr belastet, und er wendet sich auch sehr emotional seinen anwesenden Söhnen zu. Zuvor hatte man ihn im Film als starken, entschlossenen Menschen wahrgenommen. Den aus seiner Sicht vorherrschenden Mangel an einer solchen Haltung bei seinen Söhnen hatte er insbesondere dem Jüngeren gegenüber missfallend zum Ausdruck gebracht. Der seinerseits als eher still und ruhig – wenn man so will – weich dargestellte Sohn wird aber nach der emotionalen Offenbarung nicht wirklich in den Fokus gerückt, ebenso wenig der Vater. Gezeigt wird der Vater der gastgebenden Familie, an dem die Protagonisten-Familie an diesem Abend eingeladen sind. In der Reaktion wird deutlich, dass die unverblümte Emotionalität als Überforderung wahrgenommen wird. Aber auch diese mögliche Handlungsoption des Aufbrechens gesellschaftlicher Konventionen wird dann nicht weitergeführt. Die Szene endet und der Film wird am nächsten Tag mit einer idyllischen Szene am Pool weitergeführt und beendet: Der eine Sohn treibt Sport und der jüngere Sohn hält ein kontextloses Zwiegespräch mit seiner Tante.
Ich kann gut damit leben, wenn Geschichten sehr fragmentiert erzählt werden, den Zuschauer zu Reflexion anregen, Kontexte erschlossen werden können, aber hier werde ich nicht angeregt oder habe das Gefühl, dass hier Kontexte erschlossen werden können, die nicht völlig wahllos sind.
Dies habe ich nun exemplarisch vorgestellt aber bei „utländsk“, „the seventh shift“ oder „Tits“ ging es mir genauso. Noch weniger sagen kann ich zu „Quarantine“ und „The fruter and the husband“.

Mal sehen, was der Mittwoch bringt…

TEXT Chris Ellermann

FOTOS & ABBILDUNG Filmfest Osnabrück